[ Cupido. ]

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Mai!

 

Alles Blühen, Knospen und Sich-Regen des ganzen Jahres in einem Wort, in einer Silbe – selbst Lippen röteten jetzt in neuem Rot, sagt man.

 

Apropos – Vor einiger Zeit hat mir eine Freundin ein Geheimnis anvertraut – besser gesagt – von einem solchen erzählt. Selbiges rankt sich um die Entstehung jenes kleinen Grübchens welches sich von der Mitte unserer Oberlippe zum Nasensteg hin ausdehnt. Der Engel Lailah, so die Überlieferung, hätte uns Erdlingen an der Schwelle ins Leben alles, was wir hinkünftig wissen müssten ins Ohr geflüstert und diese Botschaft anschließend für alle Zeiten und Welten als Geheimnis in unserem Herzen versiegelt, als äußeres Zeichen den Engelsfinger zart auf unsere Oberlippe gelegt und dabei jenes Grübchen hinterlassen¹.

 

Soweit die Überlieferung.

 

Ein Fingerabdruck also, ein schutzengelhafter, als Siegel innersten Wissens.

 

 

Schon lange hat diese dreidimensionale Besonderheit der Oberlippe, welche bereits in der Antike als Philtrum² bezeichnet wurde mein Interesse geweckt und mich auf so manche Spurensuche geführt: Nicht nur in medizinhistorischer Hinsicht, sondern auch im Hinblick auf die Möglichkeiten der Wiederherstellung dieser anatomischen Struktur – wodurch selbige im Laufe des Lebens auch immer verletzt, entstellt oder über die Jahre einfach abhandengekommen sein mochte.

 

Nun weiß man, dass so eine Oberlippe im Laufe des Lebens (Geheimnis hin oder her) so mancher Veränderung unterworfen ist. Mithilfe hochauflösender Bildgebung und anhand photometrischer Methoden³ machte man sich gerade in letzter Zeit über alle Geschlechter und Lebensalter hinweg eifrig an die Vermessung unzähliger Oberlippen.

 

Alles Forschen, Messen, Analysieren und Abtasten förderte letztlich eine Menge an Erkenntnissen über Verlust von Volumen, über Prozesse der Ausdünnung der Gewebe sowie über diverse Formveränderungen im Laufe des Lebens (wie beispielsweise die Verbreiterung der Oberlippe auf Kosten des eigentlichen Lippenrots) zutage.

 

Auf dem Fundament all dieser Ergebnisse gelingt es heute so eine Oberlippe (und damit auch jenes Merkmal einstigen Berührtwerdens) in all ihrer Schönheit vor dem Zahn der Zeit zu bewahren.

 

 

Ob wir wohl dadurch jenem Geheimnis in den Tiefen unseres Herzens näherkommen, fragt meine Freundin.

 

Nachdenklich lege ich den Zeigefinger an meine Oberlippe und da, im Moment des Betastens jener bogenförmigen Erhabenheit an der Grenze des Lippenrots, fällt mir die alte Liebesgeschichte zwischen dem griechischen Gott Amor und der sterblichen Königstochter Psyche ein.5

 

Auch darin geht es ja um ein Geheimnis.

 

Meiner Freundin jedenfalls muss ich vorerst die Antwort auf ihre Frage schuldig bleiben.

 

Und während ich so darüber sinniere ob nun vielleicht Amor selbst, dieser pausbäckige, göttliche Lausbub mit Pfeil und Bogen, am Ende gar der Bewahrer, Wächter und Hüter dieses Geheimnis an der Schwelle unseres Lippenrots sein könnte –

 

Ja, da lächelt mir der neue Mai zu, und erinnert mich an jenen Zauber, welcher sich dem erschließt, der es versteht sich nicht sosehr dem schmallippigen Ergründen-Müssen, als vielmehr dem vollmundigen L e b e n des Geheimnisvollen selbst anzuvertrauen.

 

Möge uns dabei jenes zarte Grübchen an unserer Oberlippe heiteren Mut machen.

 

 

* * *
1 Schwartz, Howard (1 October 1994). „Gabriel’s Palace: Jewish Mystical Tales“. OUP USA – via
Google Books.

 

2 Hyrtl, J.: Onomatologia anatomica. Geschichte und Kritik der anatomischen Sprache der
Gegenwart. Braumüller, Wien 1880. Nachdruck Olms, Hildesheim und New York 1970:405-407

 

3 Tonnard PL, Verpaele AM, Ramaut LE, Blondeel PN.
Plast Reconstr Surg. 2019 Feb 13.
Aging of the upper lip, part II: Evidence Based Rejuvenation of the Upper Lip: a Review of 500 consecutive Cases.

 

4 Ramaut L, Tonnard P, Verpaele A, Verstraete K, Blondeel P.
Plast Reconstr Surg. 2019 Feb;143(2):440-446. Aging of the Upper Lip: Part I:
A Retrospective Analysis of Metric Changes in Soft Tissue on Magnetic Resonance Imaging.

 

5 Edward Brand, Wilhelm Ehlers (Hrsg.): Apuleius: Amor und Psyche. Artemis & Winkler,
Düsseldorf 2002, ISBN 3-7608-1372-0